Zur Frage des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes vor seiner widerrechtlichen Verbringung
Vor dem Europäischen Gerichtshof wurde im europäischen und internationalen Kontext folgender Fall behandelt: Bei einem Kind, das im November 2014 in der Schweiz geboren wurde und die deutsche sowie polnische Staatsangehörigkeit besitzt, stellt sich die Frage nach der internationalen Zuständigkeit in einem Rechtsstreit über das Sorgerecht und die Rückgabe des Kindes. Der Vater ist deutscher Staatsbürger und lebt seit Juni 2013 berufsbedingt in der Schweiz, während die polnische Mutter von Januar 2015 bis April 2016 mit dem Kind in Deutschland lebte. Im April 2016 zog die Mutter mit dem Kind nach Polen, wo sie sich niederließ und ab November 2016 arbeitete. Der Vater stellte im Juli 2017 über die Schweizer Zentralbehörde einen Antrag auf Rückgabe des Kindes in die Schweiz gemäß dem Haager Übereinkommen von 1980, nachdem ihm der Umgang mit seiner Tochter verweigert wurde. Das polnische Gericht wies den Antrag im Dezember 2017 ab und begründete dies mit einer Zustimmung des Vaters zum Umzug nach Polen und einer potenziellen Gefährdung des Kindeswohls durch den Vater.
Der Vater legte daraufhin Berufung ein, die im April 2018 zurückgewiesen wurde. Später leitete die Mutter in Polen ein Scheidungsverfahren ein, und im Juni 2018 wurde ihr vorläufig das alleinige Sorgerecht für das Kind zugesprochen. Der Vater stellte im Juli 2018 einen Antrag beim Amtsgericht Frankfurt am Main auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts und auf Rückgabe des Kindes in die Schweiz. Das Amtsgericht Frankfurt erklärte sich im Juni 2019 für international unzuständig. Der Vater legte gegen diese Entscheidung Berufung ein, wobei er sich auf die Verordnung Nr. 2201/2003 (Brüssel IIa-Verordnung) berief, insbesondere auf Artikel 10 und 11, die die Zuständigkeit bei widerrechtlichem Verbringen eines Kindes regeln.
Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main stellte im Vorabentscheidungsverfahren dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mehrere Fragen zur Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003. Der EuGH entschied, dass die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, gemäß Artikel 10 der Verordnung fortbesteht, selbst wenn ein Rückführungsverfahren nach dem Haager Übereinkommen von 1980 zwischen einem EU-Mitgliedstaat (hier: Polen) und einem Drittstaat (hier: Schweiz) geführt wurde und die Rückführung des Kindes abgelehnt wurde. Der EuGH betonte, dass die Regelungen in Artikel 11 der Verordnung nur auf Verfahren zwischen EU-Mitgliedstaaten anwendbar sind und nicht auf Verfahren zwischen einem EU-Mitgliedstaat und einem Drittstaat. Daher kann ein Rückführungsantrag, der darauf abzielt, das Kind in einen Drittstaat zu verbringen, nicht als „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne von Artikel 10 der Verordnung betrachtet werden. Ebenso wenig kann ein Sorgerechtsantrag als solcher Antrag angesehen werden.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, ihre Zuständigkeit in solchen Fällen grundsätzlich behalten, auch wenn das Rückführungsverfahren gescheitert ist, sofern die im Artikel 10 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Die Verordnung Nr. 2201/2003 unterscheidet klar zwischen Rückgabeverfahren innerhalb der EU und solchen, die Drittstaaten betreffen, und sieht für letztere keine Anwendung der spezifischen Zuständigkeitsregeln vor, die in Artikel 11 festgelegt sind.
EuGH, Rechtssache Rs. C-35/23, Urteil v. 20.6.2024, eingestellt am 01.09.2024